Die Zeit an der Stuttgarter Akademie (1906-1919)
Für Adolf Hölzel und für die Kunstgeschichte insgesamt wird seine Stuttgarter Zeit als Lehrer an der Königlichen Akademie zu einem bemerkenswerten Aufbruch in die Abstraktion, der den Künstler an die Seite von Wassily Kandinsky, Piet Mondrian oder Frantisek Kupka stellt.
Die Grundzüge von Hölzels künstlerischer Auffassung und seiner Theorie der künstlerischen Mittel als selbstständigen und selbsttätigen bildlichen Kräften, die man in der Kunst erforschen müsse, gehen weit in die Dachauer Zeit zurück. Doch erst in Stuttgart fand Hölzel auch in seinem Werk zu einer größeren Freiheit gegenüber der Tradition einer Sujet- und Stimmungsmalerei, für die er im Kreis der Neu-Dachauer Dill und Langhammer berühmt gewesen war. Wohl noch in Dachau hat Hölzel 1905 die „Komposition in Rot“ gemalt, das große „Rätsel der Hölzel-Forschung“. Sie greift der Entwicklung seiner Malerei in Stuttgart weit voraus. Öffentlich gezeigt hat Hölzel dieses Werk jedoch erst elf Jahre später, 1916 im Kunstverein Freiburg, der ersten, katalogbegleiteten Ausstellung Hölzels.
Begegnung
In den ersten Stuttgarter Jahren malte Hölzel relativ konventionell: wie etwa die Ansichten von Bebenhausen, die der König von Württemberg in Auftrag gab. 1907/08 schafft Hölzel mit dem Gemälde „Begegnung“ jedoch ein weiteres, zukunftsweisendes Werk: Die Figuren mit dem markanten Turm der Klosterkirche Bebenhausen im Hintergrund sind in farbige, große Flächen eingeteilt und bilden ein Ensemble optisch eigenständig wirkender Elemente. Damit hat Hölzel ein wichtiges Thema seiner Kunst formuliert: Die sich einander begegnenden Menschen entsprechen motivisch den konkret miteinander farblich und formal „kommunizierenden“ Bildmitteln.
Abstraktion
Mit Adolf Hölzel wird das Verständnis der Abstraktion als einer der großen Strömungen der Kunst in der Moderne entscheidend bereichert. Nicht so sehr die Loslösung vom gegenständlichen Motiv ist der entscheidende, wenn auch wichtige Schritt zur Moderne, sondern er besteht vor allem in der Entwicklung einer dem Bild als tatsächlicher Fläche angemessene Weise des Malens. Dafür ist die Auflösung der Zentralperspektive, die Vermeidung einer Tiefenraumillusion, die damit einhergehende, vom Ornament inspirierte Einteilung in geometrische Elemente und die Verwendung zunehmend gesättigterer Buntfarben wichtig. Hölzels Kunst kann deshalb auch bei höchstem Abstraktionsgrad oft auch gegenständlich bleiben, ohne dass dies ein Gradmesser seiner Modernität wäre.
„Bildgemäßheit“ der Form und die „Absolutheit“ der Farbe
Ein weiter Meilenstein lässt sich in Hölzels Gemälde „Wallfahrt' aus dem Jahre 1910 ausmachen. Hölzel hat hier nicht nur das Motiv, eine zum Bildvordergrund strebende Menschenmenge in einer Landschaft, in einzelne, deutlich abgesetzte Zellen „kristallisiert“, sondern auch die Farben weg von gebrochenen Naturfarbe zu den reinen Farben des Spektralfarbkreises abstrahiert. Damit hat Hölzel zwei zentrale Komponenten seines Werks entwickelt: die „Bildgemäßheit“ der Form und die „Absolutheit“ der Farbe: ein Rot ist nicht mehr nur eine Schattierung, ein Abglanz der Erscheinung, sondern ein „Rot“ schlechthin. In der Tat spielt der Begriff „absolute Malerei" in Hölzels Sprachgebrauch eine wichtige Rolle.
Nähe zu musikalischen Kompositionen
Hölzel entfaltet seine kaleidoskopartigen Bildstrukturen und die damit verbundenen Farbenkonzerte in der folgenden Zeit variantenreich und experimentierend in einem reichhaltigen Gemäldeœuvre. Die Nähe zu musikalischen Kompositionen und ihrer Regelhaftigkeit, die Hölzel immer wieder als Leitbild seines eigenen Schaffens angesprochen hat, wird auch in einigen Werktiteln deutlich, etwa der Fuge über ein Auferstehungsthema aus dem Jahre 1916.
„Gestrickte Bilder“
Ein Jahr später beginnt eine Reihe von kleinformatigen Gemälden, die Hölzel geschaffen hat, indem er die Ölfarbe als Strang direkt aus der Tube auf Karton drückte. Hölzel nannte diese so genannten Tubenbilder auch seine „gestrickten Bilder“. Sie stellen gleichsam eine Art Kompendium und Resümee seiner Malerei dar: Figurenkompositionen in verschiedenen Formkonzeptionen und ganz ornamental-ungegenständliche Werke sind darunter. Sie stellen die spätesten bedeutenden Gemälde in Hölzels Œuvre dar – nach 1919, als Hölzel von seinem Amt als Professor der Stuttgarter Akademie in den Ruhestand versetzt wurde, wendet er die Öltechnik auf Leinwand nur noch sehr vereinzelt an, und der Künstler verlegt sich auf Papierarbeiten.
Papierarbeiten
Doch spielen Papierarbeiten künstlerisch für Adolf Hölzel auch vorher schon eine besonders wichtige Rolle. So darf er als einer der Pioniere der Collage betrachtet werden. Erste Arbeiten, für die er farbige Papiere aber auch textile Schnipsel und Aluminiumfolie einsetzte, entstehen ab 1913. Sie stellen eine konsequente Anwendung von Hölzels Überlegungen dar, dass das Bild vor allem ein definiertes Feld des optischen Kräftezusammenspiels von farbigen Teilflächen ist. Durch ausprobierendes Verschieben und anschließendes Fixieren dieser Elemente kommt Hölzel zu Bildergebnissen, die ihn befriedigen. Anders als im etwa gleichzeitigen Kubismus war die Collage für Hölzel also keine Funktion des Realismus, sondern eine Methode der Komposition.
Glasfenster
Aus der Idee der Collage-Technik entstehen jedoch nicht nur Papierarbeiten, sondern auch ein für das Werk von Hölzel besonders zentrales Werk; die Glasfenster für den Sitzungssaal von H. Bahlsen Keksfabrik in Hannover, die Hölzel ab 1914 entwarf und die kriegsbedingt erst 1918 eingesetzt wurden. Hölzel schuf hier nicht nur klassische Bleiverglasungen, bei denen einzelne Buntglasscheiben mit Bleiruten zu einem Mosaik verbunden werden. Diese Technik kam dem Hölzels Bildkonzept der spielenden Farbflächen entgegen. In den Bahlsen-Fenstern verschmolz er zudem collageartig übereinander gelegte Farbglasstücke. Es entstand eine dreiteilige, tryptichonartige Komposition, die in raffinierten Überlagerungen und Beeinflussungen die Elemente des Bildes in einen lebendigen Austausch der bildnerischen Kräfte bindet und die Vielfalt des Farbkreises entfaltet. In den Bahlsen-Fenstern findet Hölzels Abstraktion einen für die europäische Kundegeschichte wichtigen Höhepunkt.
Dr. Daniel Spanke